Alle Wege in die Welt – unterschiedliche Lernpräferenzen anerkennen
Die Welt ist von unermesslicher Vielfalt. Und das nicht nur in fernen Ländern und auf entlegenen Kontinenten, sondern auch in unserem alltäglichen Umfeld, in dem wir leben, uns bewegen und arbeiten. Bei all der scheinbaren Ähnlichkeit ringsum bleibt dies jedoch häufig unbemerkt. Manchmal genügen ein kurzes Innehalten und ein aufmerksamer Blick, um die Vielfalt hinter dem zu erkennen, was uns doch so gleich erscheint.
Um die Teilnehmenden einer Jugendbegegnung für diese Perspektive zu sensibilisieren, eignet sich gut die in der Methodensammlung Ideenfundus beschriebene Übung „Zitronen“. Sie lässt uns verstehen, dass Zitronen, auch wenn sie auf den ersten Blick gleich erscheinen, bei näherer Betrachtung ihre charakteristischen Merkmale offenbaren. Jede einzelne ist anders und auf ihre Weise einzigartig: Die Früchte haben unterschiedliche Größen und Formen, eine unterschiedlich gewellte Schale, eine ungleichmäßige Färbung sowie Flecken und Unreinheiten. Zitronen dienen hier als Metapher für die Vielfalt von Menschen, die manchmal sehr ähnlich zu sein scheinen (vor allem, wenn sie nicht der eigenen Gruppe angehören). Doch wenn wir uns Zeit nehmen und ihnen Aufmerksamkeit schenken, erkennen wir, dass sie wie die Zitronen unserer Übung sind: Jede Person ist einzigartig und hat Merkmale, die sie von anderen Personen unterscheidet.
Die Metapher der Zitrone lässt sich auf jeden Lebensbereich anwenden. In Bezug auf die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen bei internationalen Austauschprojekten ist das Thema individuelle Lernstile und -präferenzen besonders interessant. Hier wird unsere Vielfalt offenkundig, denn wir lernen auf ganz unterschiedliche Weise: im Sitzen oder im Gehen, aus Büchern oder in Aktion, mit Musik oder im Stillen, allein oder mit anderen usw. Diese Tatsache aber wird im gängigen Modell schulischer Bildung, bei dem sich der Lernprozess auf das Auswendiglernen und Reproduzieren von Inhalten zu verschiedenen Themen stützt, weder erkannt noch berücksichtigt. Menschen, die Informationen anders wahrnehmen und verarbeiten, haben es hier schwer. Von ihnen gibt es jedoch eine ganze Menge, wie wohl allen bekannt sein dürfte, die jemals zur Schule gegangen sind oder die aktuell noch zur Schule gehen. Doch von welchen Unterschieden ist hier die Rede? Und was sind ihre Gründe?
Die multiplen Intelligenzen nach Howard Gardner
Eine Antwort darauf könnte das Konzept der multiplen Intelligenzen des amerikanischen Psychologen Howard Gardner liefern. Im Gegensatz zur gängigen Definition von „Intelligenz“ (wonach Intelligenz sich nach dem IQ bemisst), unterscheidet er acht Arten von Intelligenz, d. h. verschiedene Arten, Wissen zu verstehen, zu analysieren, zu verarbeiten und zu nutzen. Diese sind:
- Sprachlich-linguistische Intelligenz – dazu gehört die Fähigkeit, sich mündlich und schriftlich sprachlich auszudrücken.
- Logisch-mathematische Intelligenz – sie steht für analytisches Denken, Problemlösung, Erkennen von Mustern und die Fähigkeit, mit Zahlen zu arbeiten.
- Musikalisch-rhythmische Intelligenz – sie bezieht sich auf den Sinn für Rhythmus, Melodie, Harmonie und Klänge.
- Körperlich-kinästhetische Intelligenz – sie steht für körperliche Geschicklichkeit, motorische Koordination und Muskelkontrolle.
- Räumliche Intelligenz – sie ermöglicht, sich im Raum zu orientieren, Bilder im Kopf zu erzeugen und visuelle Beziehungen wahrzunehmen.
- Interpersonale Intelligenz (auch: Soziale Intelligenz)– dazu gehört die Fähigkeit, andere Menschen, ihre Gefühle, Absichten und Motivationen zu verstehen.
- Intrapersonelle Intelligenz – sie bezieht sich auf die Selbstwahrnehmung und die Fähigkeit, die eigenen Gefühle, Gedanken und Ziele zu analysieren.
- Naturkundliche Intelligenz – dazu gehört die Fähigkeit, die Natur – Pflanzen, Tiere, Ökosysteme – sowie Naturphänomene zu verstehen und zu unterscheiden.
Seit Langem liegt der Schwerpunkt des formalen Bildungssystems auf der Entwicklung der sprachlichen und logisch-mathematischen Intelligenz. Für andere Formen der Verarbeitung und des Verstehens von Informationen ist weit weniger Platz. Gardners Konzept nimmt keine Hierarchisierung vor: Alle Intelligenzen sind als gleichwertig zu betrachten und ergänzen sich gegenseitig. Sie sind in jedem Menschen vorhanden, wobei ihre Ausprägung unterschiedlich ist und sich im Laufe des Lebens verändern kann. Um herauszufinden, welche Intelligenzen uns am besten beschreiben, ist es hilfreich, dass wir uns zunächst unsere Kindheit ins Gedächtnis rufen: Womit haben wir uns am liebsten beschäftigt? – Geschichten hören? Rätsel lösen? Mit Bauklötzen spielen? Zeichnen? Der Rückblick wird uns helfen, uns selbst besser zu verstehen und zu erkennen, dass wir verschiedene Arten der Informationsaneignung und -verarbeitung in uns vereinen. Auch ohne eingehende Beobachtung und diagnostische Tests lässt sich vermuten, dass die Teilnehmenden internationaler Jugendbegegnungen diesbezüglich eine ähnliche Vielfalt aufweisen. Sie werden eine ganze Reihe unterschiedlicher Arten, die Welt kennenzulernen, in sich vereinen. Wie also gehen wir das Thema an? Wie gelingt es uns, bestmögliche Lernbedingungen zu schaffen? Am einfachsten sollten wir davon ausgehen, dass bei einer Gruppe, die vielfältig ist (wovon wir ausgehen können), es auch die verwendeten Methoden sein sollten (es lohnt ein Blick in den Ideenfundus). Auf diese Weise entsteht eine Umgebung, in der alle Teilnehmenden lernen und ihr natürliches Potenzial entfalten können. Bei einer internationalen Begegnung ist es daher sinnvoll, verschiedene Räume zu schaffen und dabei Gruppen- und Teamarbeit (interpersonale Intelligenz), individuelle Arbeitsweisen (intrapersonelle Intelligenz), Sprachübungen (sprachlich-linguistische Intelligenz), rhythmische und musikalische Methoden (musikalisch-rhythmische Intelligenz), Aktivitäten im Freien und Bewegungsaktivitäten (naturkundliche und körperlich-kinästhetische Intelligenz) als methodische Angebote zu nutzen.
Das Erlernen neuer Dinge im Einklang mit ihren natürlichen Fähigkeiten und Lernpräferenzen, erhöht die Motivation und das Engagement der Teilnehmenden. Ein großer Vorteil dieses Ansatzes ist, dass er für verschiedene Gruppen adaptiert werden kann, auch für Teilnehmende mit besonderen Bedürfnissen (z. B. neurodiverse Personen). Auf diese Weise kann es gelingen, eine wirklich integrative Jugendbegegnung zu planen und durchzuführen.
In der Praxis
Was also ist zu tun? Da wir beim Thema Praxis sind, soll es im Folgenden um konkrete Aktivitäten gehen. Die Tabelle weiter unten enthält entsprechende Vorschläge für Menschen mit unterschiedlichen Intelligenzen. Dabei handelt es sich selbstverständlich nicht um eine abgeschlossene Liste, sondern um Beispiele, die eine Idee vermitteln sollen und als Inspiration dienen können. Es ist ratsam, sich dem Thema kreativ zu nähern, verschiedene Aktivitäten zu mischen und immer wieder neu miteinander zu kombinieren. Internationale Jugendbegegnungen finden außerhalb des schulischen Lehrplans statt. Sie lassen somit großen Freiraum und viele Möglichkeiten bei der Auswahl aus einer Fülle von Methoden, für die im Schulalltag kaum Platz ist.
Wir können vielfältige Aktivitäten anbieten, die es den Jugendlichen ermöglichen, ohne Sorge um Prüfungen oder Noten, nicht nur neue Dinge zu erlernen, sondern zugleich ein Bewusstsein für ihre natürlichen Lernpräferenzen und Stärken zu entwickeln und auf diese Weise eigene Wege des Lernens und eines Verständnisses der Welt zu entdecken. Werden wir dabei allen Bedürfnissen gerecht? Wahrscheinlich nicht. Kein Bildungsprozess wird dies vermutlich leisten können. Bekannte Pfade des Unterrichtens zu verlassen und einen Lernraum für alle zu schaffen, kann jedoch zu unerwarteten Ergebnissen führen. Einen Versuch ist es wert.