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Mehr als genug – Tipps zum Umgang mit Reizüberflutung

Anna Szlęk
Trainerin für non-formale und interkulturelle Bildung

„Der heutige Mensch erhält jeden Tag so viele neue Informationen, wie jemand der im Mittelalter gelebt hat, sein ganzes Leben“, schrieb der polnische Dichter, Schriftsteller und Übersetzer Adam Czerniawski. Und wahrscheinlich hatte er recht. Wir brauchen uns nur die Einträge eines einzigen Tages in unserem Kalender anzuschauen und uns vergegenwärtigen, wie wir den Tag verbringen: was wir sehen, hören, lesen, wie vielen Menschen wir begegnen, wie viele Gespräche wir führen und auf wie vielen Social-Media-Kanälen wir unterwegs sind. Alles zu Papier gebracht, würde uns bewusst, wie viele Reize unser Gehirn täglich verarbeiten muss. Der Schnelligkeit des modernen Lebens, vor allem aber den enormen technologischen Entwicklungen der letzten Jahre kommen in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu: Wir haben ständigen Zugang zu Informationen, können nahezu in Echtzeit verfolgen, was es Neues bei Verwandten und Freunden gibt, was in unserem Land und selbst an weit entfernten Orten geschieht. Das ist einerseits sehr schön und praktisch, bedeutet aber für die meisten von uns ein Übermaß an Informationen. Denn das menschliche Gehirn ist nicht dafür gemacht: Es hatte noch nicht ausreichend Zeit, sich evolutionär an den nicht enden wollenden Strom von Sinnesreizen anzupassen. So arbeitet es unter Hochdruck, um die Vielzahl an Informationen – aktuelle Nachrichten, Trends und Moden, neue Entdeckungen, Theorien, Konzepte und Ansätze – aufzunehmen und zu verarbeiten. Davon gibt es eine ganze Menge, denn die Welt scheint sich immer schneller zu drehen, und unsere Realität ist ungleich vielfältiger als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Wir leben heute in einem globalen Dorf (sogar aus den entlegensten Winkeln der Welt erreichen uns neue Trends in kürzester Zeit) und sehen uns einem rasanten Anstieg der weltweiten Mobilität gegenüber (die es uns ermöglicht, beinahe überall Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen zu begegnen).


Dies zeigt sich selbst in einem so kleinen Bereich wie dem internationalen Jugendaustausch. Wir finden dort Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft, die verschiedene Sprachen sprechen, verschiedenen Religionen angehören oder sich keiner Konfession verbunden fühlen, die auf unterschiedliche Dinge sensibel reagieren, die Welt unterschiedlich wahrnehmen, verschieden Lernen und sich unterschiedlich ernähren. Zwar erlaubt uns diese große Vielfalt, neue Perspektiven zu entdecken, uns an der Fülle von Möglichkeiten zu erfreuen und voneinander zu lernen, bedeutet aber zugleich, dass wir immer mehr Sinnesreize verarbeiten müssen. Bei der täglichen Flut an Informationen, Aufgaben, Treffen, Terminen und Dingen, kann die Arbeit in einem vielfältigen Umfeld die ohnehin vorhandene Erschöpfung noch steigern (mehr dazu auch im Beitrag „Vielfalt im Austausch. Die Entdeckung bekannter und unbekannter Welten“).


Was tun?

Was also können wir gegen eine Überforderung durch zu viele zu verarbeitende Sinnesreize tun? Vor allem sollten wir akzeptieren, dass sich einige Dinge einfach nicht ändern lassen und seien die Absichten noch so gut und die Bemühungen noch so groß. Aber wir können versuchen, während eines Austauschprojekts ein Umfeld zu schaffen, in dem junge Menschen Zeit miteinander verbringen und sich engagieren können, ohne schon am ersten Tag der Begegnung völlig ermattet zu sein. Sind die Jugendlichen entspannt, wird es uns leichter fallen, auch auf unser eigenes Wohlbefinden zu achten. Dazu gehört alles, was dazu beiträgt, die Flut an Sinnesreizen zu reduzieren und für Entspannung zu sorgen. Die Berücksichtigung folgender Vorschläge kann bei der Organisation einer Jugendbegegnung hilfreich sein. Die Sammlung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es handelt sich um jeweils eigenständige Vorschläge, die sich aber auch kombinieren lassen. Sie sollen zum Nachdenken und zum Handeln anregen und können auf beliebige Weise, vollständig oder in Teilen, umgesetzt werden.


  1. Entspannen und loslassen. Vor allem die Vertreterinnen und Vertreter der Generation Z bringen es darin zu wahrer Meisterschaft. Das Credo der jungen Menschen ist das Prinzip „gut genug“. Es befreit sie vom Kampf um ein perfektes Leben und erlaubt es ihnen, keine überzogenen Erwartungen an sich selbst und die Welt zu stellen. Dieses Prinzip lässt sich auch auf den Jugendaustausch übertragen. Ich bin mir durchaus bewusst, dass diese These für manche revolutionär klingen mag, meine langjährige Erfahrung in der non-formalen Bildungsarbeit zeigt jedoch, dass polnische Lehrkräfte bei ihren Projekten manchmal dazu neigen, ein allzu reichhaltiges Programm auf die Beine zu stellen. Jeder Tag der Begegnung ist von morgens bis abends eng getaktet. Selbst die Fittesten sind spätestens am dritten Tag außer Atem. Zudem sind viele Programmpunkte vor allem für Erwachsene attraktiv, nicht aber unbedingt für junge Leute. Ziel des Austauschs sollte jedoch nicht sein, ohne Rücksicht auf die Interessen der Teilnehmenden, den Wettbewerb um die größte Anzahl an Programmpunkten zu gewinnen. Internationale Begegnungen sind Orte, an denen Jugendliche allein durch das Kennenlernen anderer Menschen und Kulturen zahlreiche neue Erfahrungen machen. Je mehr (manchmal sehr unterschiedliche und für die jungen Leute nicht immer interessante) geplante Aktivitäten pro Tag, desto größer die Gefahr der Reizüberflutung und Erschöpfung – sowohl für die Jugendlichen als auch für das Leitungsteam. Ein Austausch ist kein Hürdenlauf, gönnen wir uns also auch Zeit zum Durchatmen. Vielleicht kann die Mittagspause länger sein oder das Programm statt um 8 Uhr um 9.30 Uhr beginnen? (Jugendliche schütten das für den Schlaf verantwortliche Melatonin anders als Erwachsene aus: 8 Uhr fühlt sich für sie wie 4 Uhr morgens an – also sind sie um diese Zeit ohnehin kaum wach.) Wie wäre es mit echter Freizeit, also Phasen ohne vorgegebene Struktur? Zeit, um sich auszuruhen, miteinander zu reden oder einfach eine Weile nichts zu tun. Ein Austauschprojekt, bei dem jede Minute verplant ist, führt zu Überreizung und Erschöpfung. Lassen wir es also lockerer angehen und planen jeden Tag Zeit für Entspannung und Erholung ein.
  2. Sich auf „das Andere“ vorbereiten. Ein Austauschprojekt bedeutet Begegnung mit Vielfalt auf zahlreichen Ebenen: mit neuen Menschen unterschiedlicher Herkunft, die verschiedenen Religionen angehören oder sich keiner Konfession verbunden fühlen, die unterschiedliche Persönlichkeiten haben und Erfahrungen mitbringen, die auf Dinge unterschiedlich sensibel reagieren, verschieden lernen, die Welt unterschiedlich wahrnehmen usw. Erschöpfung kann die Folge sein, wenn auf diese Weise allzu viele neue Reize auf uns einprasseln. Daher ist es ratsam, dass sich sowohl die Jugendlichen als auch wir selbst uns auf diese Begegnung mit Vielfalt vorbereiten, damit sie uns nicht überwältigt, sondern für neue Sichtweisen und Lernerfahrungen empfänglich macht. (Mehr dazu im Beitrag „Vielfalt im Austausch: Die Entdeckung bekannter und unbekannter Welten”.)
  3. Lachen. Am Spruch „Lachen ist gesund“ ist vieles dran. Lachen setzt Endorphine, sogenannte Glückshormone, frei, während die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol sinkt. Und dessen Produktion kann bei den jungen Teilnehmenden einer internationalen Begegnung deutlich steigen. Denn es gibt viele Herausforderungen: eine neue Umgebung, neue Orte, neue Menschen, neue Methoden und Arbeitsweisen – und dazu die Kommunikation in einer anderen Sprache. Das alles kann belastend sein, denn schon ohne diese Dinge ist die Interaktion in einer Gruppe Gleichaltriger und der Aufbau von Beziehungen als Teenager nicht einfach. Genau hier kommt das Lachen ins Spiel, das Stress abbaut und dabei hilft, sich besser zu fühlen. Echtes und spontanes Lachen kann nur dann entstehen, wenn das Umfeld als sicherer Ort empfunden wird. Dies gelingt, indem wir einen Raum schaffen, in dem sich die Jugendlichen kennenlernen und Beziehungen aufbauen können. Es lohnt sich, dafür Zeit einzuplanen und Methoden zu wählen, bei denen die Teilnehmenden wahrnehmen, wer neben ihnen sitzt und was sie miteinander verbindet. In einer Atmosphäre, in der die Jugendlichen sich sicher und von der Gruppe akzeptiert fühlen, wird es ihnen leichter fallen, sich auszudrücken – auch spontane Freude. Je mehr echtes Lachen, desto geringer die Erschöpfung und desto positiver die Einstellung zu sich selbst, zu anderen und zur Welt.
  4. Ab ins Grüne. Die Hektik des Alltags, der wir nur schwer entkommen, die Informationsflut, die tagtäglich von allen Seiten auf uns einstürzt, und auch der Lärm, der uns umgibt, führen bei den meisten von uns zu Überreizung. Daher ist es wichtig, physische und geistige Räume zu suchen, die es uns ermöglichen abzuschalten und die Welt hinter uns zu lassen. Den Kontakt mit der Natur empfinden wir Menschen als wohltuend. Himmel und Pflanzen beobachten, Bäume berühren oder Tiergeräuschen lauschen ist Detox für unseren Geist. Banal, aber vermutlich selten Teil unserer täglichen Routine. Forschungen indessen belegen, dass schon eine halbe Stunde in der Natur zu einer deutlichen Senkung des Cortisolspiegels im Körper beiträgt. Um sich zu entspannen, den Kopf freizubekommen und neue Energie zu tanken, genügt deshalb manchmal ein kurzer Spaziergang im Wald oder im Park – anstatt wieder und wieder durch die neuesten Social-Media-Posts zu scrollen. Es lohnt sich, diese Erkenntnis für den Jugendaustausch zu nutzen und die eigene Begegnung so zu planen, dass einige Programmpunkte im Freien stattfinden. Das können Aktivitäten zur Gruppenintegration (hervorragend eignen sich zum Beispiel teambildende Übungen – zahlreiche Vorschläge gibt es im Ideenfundus), eine Waldrallye oder einfach ein 20-minütiger gemeinsamer Spaziergang sein. Auf diese Weise sorgen wir dafür, dass die Jugendlichen, aber auch wir selbst, ein wenig Sauerstoff tanken und körperlich aktiv sind.
  5. Genügend Schlaf. Natürlich ist das eine Binsenweisheit, doch Schlaf ist für einen funktionierenden Organismus unerlässlich. In Bezug auf das Thema Reizüberflutung kommt ihm eine besondere Rolle zu: Während des Schlafs regeneriert sich das Nervensystem, überflüssige Informationen, die während des Tages gesammelt wurden, werden aussortiert und – wichtig für Bildungsprozesse – erworbenes Wissen prägt sich besser ein. Einfach wird es natürlich nicht J. Ein Austauschprojekt ist für die Jugendlichen aufregend. Möglicherweise wird es ihnen schwerfallen, zur Ruhe zu kommen und ausreichend Schlaf zu finden. Es empfiehlt sich daher, das Programm so zu planen, dass der Abend entspannt ausklingen kann, damit die Jugendlichen abschalten und ohne allzu viele neue Sinnesreize einschlafen können (vgl. Punkt 1).
  6. Handyzeiten – die richtige Balance finden. Damit kommen wir zu einem möglicherweise brisanten Thema. Zweifelsohne lösen Handys eine Vielzahl an Sinnesreizen aus. Auch wenn es uns so scheinen mag: Selbst das kurze Scrollen durch unsere Social-Media-Kanäle bedeutet für unser Gehirn leider alles andere als Entspannung. Was also ist zu tun? Die Handys während des Austauschs einzusammeln, kann sich als konfliktträchtig erweisen und trägt vermutlich weder zu unserem Wohlbefinden noch dem der Teilnehmenden bei. Und wenn schon eine solche Regel, dann sollte sie für alle gelten: die Jugendlichen aber auch das Leitungsteam (was natürlich ein guter Anknüpfungspunkt ist, um sich selbst die Frage zu stellen, inwieweit hierzu überhaupt Bereitschaft besteht). Um das Thema nicht auf die Spitze zu treiben oder gar einen Generationenkonflikt loszutreten, lohnt die Suche nach anderen Lösungen. Hilfreich ist ein Programm, das die Jugendlichen so stark einbindet, dass selbst das Handy an Attraktivität verliert. (Manche werden zweifelnd fragen, ob das überhaupt realistisch ist. Ihnen sei versichert: Auf jeden Fall! Ich selbst habe solche Projekte gesehen, an ihnen teilgenommen und sie organisiert. J) Dies gelingt, wenn die Begegnung nicht „für“ sondern „mit“ den Teilnehmenden organisiert wird. Die Jugendlichen müssen in die Planung einbezogen werden, damit sich das, was sie wirklich machen wollen, im Programm wiederfindet – und nicht das, was sie ohnehin immer tun oder was das Leitungsteam interessant findet (als Inspiration kann die Methode „Ideenbörse“ hilfreich sein). Es ist überlegenswert, Handys als pädagogisches Werkzeug einzusetzen, um zu zeigen, dass die Geräte auch anderen Zwecken dienen können, als der reinen Unterhaltung. Sinnvoll kann dies zum Beispiel bei Integrationsspielen sein („Zeige mir drei Bilder auf deinem Handy, die mir viel über dich und deine Interessen verraten.“) oder im Rahmen von Stadtrallyes, für die Applikationen wie Actionbound usw. zum Einsatz kommen können. Vielleicht ist eine handyfreie Stunde am Tag eine gute Idee. Dies sollte jedoch mit der Gruppe abgesprochen werden und muss dann natürlich für alle gelten. Es geht also nicht darum, die Jugendlichen völlig aus ihrer virtuellen Welt zu reißen, sondern ihnen zu zeigen, dass das echte Leben genauso interessant sein kann.
  7. Alles tun, was uns sonst noch einfällt (seien es Atem- oder Achtsamkeitsübungen, Meditationen oder morgendliches Yoga), um den am Austausch beteiligten Jugendlichen und Erwachsenen die Möglichkeit zu geben, zur Ruhe zu kommen und sich von den Sinnesreizen, die von überall her auf sie einströmen, zu entspannen.

Vielleicht stellen sich manche nach diesen wenigen Punkten die Frage: „Und das war jetzt alles? So banale Dinge?“ Ja, das war es tatsächlich. Uns mag vielleicht scheinen, dass all die tiefgreifenden technologischen Veränderungen und Entwicklungen neue und revolutionäre Lösungen erfordern, aber die einfachsten und seit Jahren erprobten funktionieren nun einmal am besten. Denn unser Gehirn verändert sich insgesamt nur sehr langsam, in der modernen Welt von heute aber ist es sehr viel schneller erschöpft als noch in früheren Zeiten. Wie auch sonst im Leben muss jede und jeder hier natürlich einen eigenen Umgang und Weg finden. Mein herzlicher Rat zum Schluss: Vor allem lernen loszulassen und sich die Philosophie des „Gut ist gut genug“ zu eigen zu machen.


WISSEN ERWEITERN