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Subjektivität

Natalia Sarata
Antidiskriminierungstrainerin,
Stiftung Raum für Frauen, Gesellschaft für antidiskriminierende Bildungsarbeit

1. Was bedeutet es, jemandem auf Augenhöhe zu begegnen und was ist das Ziel dabei?

Anderen Personen auf Augenhöhe zu begegnen ist ein Zeichen, ihre Autonomie und Selbstbestimmung anzuerkennen. Das bedeutet auch, dass wir diese Personen als Partner/-innen behandeln, und nicht nur als Empfänger/-innen oder Teilnehmer/-innen an einer von uns organisierten Veranstaltung. Wenn wir anderen Personen auf Augenhöhe begegnen, geht damit einher, dass wir ihnen die Möglichkeit geben, Dinge, die sie selbst betreffen zu entscheiden und selbst aktiv zu werden. Anderen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen ist die Grundlage für einen echten Dialog und gute Zusammenarbeit. Sie unterstützt das Engagement, macht den Austauschprozess zu einer gemeinsamen Erfahrung und hilft, die eigene Selbstständigkeit sowie die Achtung anderer Personen unabhängig von individuellen Unterschieden weiter zu entwickeln.

Anders als wenn jemand als reines Objekt betrachtet wird, wird bei einer Begegnung auf Augenhöhe der oder die andere als handelndes Subjekt gesehen. Dies bedeutet in der Beziehung mit anderen Menschen, dass ihre Meinungen, Entscheidungen, Lebensentwürfe und Überzeugungen von uns als ebenso wichtig behandelt werden, wie unsere eigenen. Wir nehmen also eine multiperspektivische Sichtweise ein und gehen davon aus, dass niemand ein „Monopol“ auf die Wahrheit oder Richtigkeit hat. Die Achtung der anderen Person bedeutet dabei nicht, dass wir auch mit ihr übereinstimmen oder die gleichen Ansichten teilen müssen.

Andere mit Achtung und auf Augenhöhe zu behandeln kann eine Herausforderung sein, insbesondere in Beziehungen, in denen eine Gruppe rechtlich oder symbolisch von der anderen abhängig ist (z. B. im Verhalten von Menschen ohne Behinderungen gegenüber Menschen mit Behinderungen) oder wenn es die Rolle der einen Gruppe ist, die Entwicklung der anderen Gruppe zu unterstützen und sie zu betreuen und zu erziehen (z. B. im Verhalten von Lehrer/-innen gegenüber Schüler/-innen). Hier lohnt sich ein Blick auf das Konzept von Janusz Korczak, der dazu aufrief, in der Beziehung zu Kindern von der Überzeugung der Unfehlbarkeit und höchsten Autorität der erwachsenen Erziehungsberechtigten abzukommen, und auf authentische Neugierde, empathisches Lernen voneinander und gegenseitige Erziehung zu setzen.

2. Begegnung auf Augenhöhe als antidiskriminierende Perspektive

Wenn man die Subjektivität anderer Personen als wichtig erachtet, kann man lernen, wie man Angehörige von Minderheitengruppen mit Respekt behandelt. Ob man solche Gruppen als bloße Objekte betrachtet, zeigt sich in der Sprache, die man verwendet, oder auch in der Art, auf die man sie in das eigene Tun einbindet.


In der Praxis geht es immer darum, die nicht zur eigenen oder zur Mehrheitsgruppe Gehörenden nicht als „exotisch”, „anders” oder „notleidend” darzustellen, nicht zu generalisieren und sie nicht von oben herab zu behandeln, sondern ihre Subjektivität und ihre Stimme in eigener Sache zuzulassen und anzuerkennen.

Weniger wohlhabende Personen

Wenn uns daran liegt, dass möglichst viele Jugendliche unserer Schule am Jugendaustausch teilnehmen, aber nicht alle die finanziellen Mittel für so eine Reise haben, kann man finanzielle Unterstützung durch Geldsammlungen, Sponsoren und andere Eltern organisieren. Manchmal ist es dann verlockend, von „armen Kindern“ zu sprechen und die Sammlung für sie als eine „Spende für die armen Kinder“ zu bezeichnen. Hier lohnt es sich zu überlegen, was solch eine Wortwahl nützt. Wenn sie zum Ziel hat Mitleid zu erregen, wird ein Überlegenheitsgefühl gegenüber dieser Gruppe geweckt und man betont empfindliche Unterschiede, so dass eine Behandlung dieser Gruppe als bloße Objekte vorliegt. An Stelle einer solchen falsch verstandenen „Wohltätigkeit“ kann man z. B. zeigen, dass eine gemeinsame Reise aller ein Abenteuer ist und die Perspektive erweitert, und dass dies nicht von den finanziellen Möglichkeiten der Eltern oder Erziehungsberechtigten abhängen sollte. Man kann auch die an der Reise interessierten Jugendlichen selbst fragen, ob sie bei der Gelegenheit von ihren Vorlieben, Träumen und ihrer Motivation für die Reise erzählen möchten. Dies kann ihnen helfen, ihren Teil zu der Narration über sich selbst beizutragen.


Menschen mit Behinderungen

Besonders in der polnischen Realität sind Menschen mit Behinderungen nur zu einem kleinen Grad im gesellschaftlichen Leben sichtbar. Dies hängt mit den großen Schwierigkeiten zusammen, mit denen sie im öffentlichen Raum konfrontiert werden (die Notwendigkeit, gesellschaftlichen Vorurteilen zu begegnen, Institutionen und das architektonische Umfeld, die nicht auf sie eingestellt sind, eine häufig schwierige materielle Situation usw.). Dies führt dazu, dass sie oft nicht als Personen mit Vorlieben, Berufen und Zielen wahrgenommen werden, sondern lediglich als „notleidende Gruppe“ oder sogar als „Gruppe gesellschaftlicher Fürsorge“ (was eine sehr verletzende Bezeichnung ist). Sehr häufig werden Menschen mit Behinderungen auch nicht als ein integraler Teil der eigenen Gruppe behandelt, sondern als eine separate, „andere“ Gruppe. Ein häufiger Fehler ist, die Teilnahme von Menschen mit unterschiedlicher Handlungsfähigkeit nicht von Beginn an mitzudenken sowie ihnen nicht die Möglichkeit zu geben, über die Gestaltung des Programms und der einzelnen Punkte mitzuentscheiden. Wenn man Menschen mit Behinderungen z. B. für einen Tag als „exotische Gäste aus einer anderen Welt“ oder „Bedürftige“ einlädt, stellt man ihre „Andersartigkeit“ in den Mittelpunkt. Anstatt diese zum Kern der ganzen Begegnung zu machen, könnte man herausfinden, welche gemeinsamen Interessen die Kinder und Jugendlichen mit unterschiedlichen Fähigkeiten verbinden (also Personen mit und ohne Behinderungen) und daraus das Thema der Begegnung entwickeln. Versuche der „Integration“ kann man getrost weglassen und stattdessen über verschiedene Erfahrungen, Pläne und Vorlieben sprechen, ganz unabhängig vom Grad der Behinderung. Achtung: Eine Behinderung ist keine Krankheit, deshalb sollte man nicht den Gegensatz „gesund“ – „krank“ verwenden. Es gibt Menschen mit Behinderungen, die nicht krank sind, ebenso wie es Menschen ohne Behinderungen gibt, die krank sind.


Migrantinnen und Migranten, Geflüchtete und Personen anderer ethnischer, kultureller und nationaler Herkunft als die Mehrheitsgruppe im jeweiligen Land

Im Vergleich zur polnischen Gesellschaft ist die ethnische, kulturelle und nationale Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft deutlich vielfältiger.

Jugendliche aus Polen haben geringere Chancen, bewusst und auf Augenhöhe Repräsentanten anderer Kulturen als der polnischen, anderen Glaubensrichtungen als dem Katholizismus und anderen Hautfarben als der weißen zu begegnen. Obwohl Arbeitsmigration innerhalb der eigenen Familie (besonders nach Deutschland und Großbritannien) eine immer verbreitetere Erfahrung unter polnischen Kindern ist, haben sie noch immer selten die Gelegenheit zu hören, wie wichtig diese Erfahrung ist und diese auch zu reflektieren. Auch das Wissen über die Situation von Geflüchteten aus von bewaffneten Konflikten bedrohten Gebieten ist gering. Dieses Thema wird, so wie in vielen europäischen Ländern, als ein rein politisches behandelt. Die Diskussion über „Geflüchtete“ wird sowohl in Polen als auch in Deutschland durch verschiedene Medien und politische Gruppen ausgenutzt, um Islamophobie und Ängste vor dem „Fremden“ zu schüren, insbesondere vor Muslimen. Es ist zu betonen, dass ähnliche Diskussionen in beiden Gesellschaften mit unterschiedlicher Härte geführt werden: In Westdeutschland zeigen 74% der Bevölkerung Wohlwollen gegenüber Geflüchteten, in Ostdeutschland 53%. Gleichzeitig lehnen 74% der Polen die Aufnahme auch nur eines Geflüchteten ab, während in Polen rund 0,1% Muslime leben, in Deutschland dagegen 6%. In Polen ist die Einstellung ihnen gegenüber zu ca. 60% negativ, in Deutschland zu rund 70% positiv (s. Grafik zur Anzahl von Muslimen und der Einstellung ihnen gegenüber in den einzelnen EU-Ländern (auf Polnisch)).

Bei der Organisation von Begegnungen mit Jugendlichen aus Polen und oft deutlich vielfältigeren Gruppen aus Deutschland sollte man darauf achten, diese Unterschiede nicht von vorneherein als etwas zu betrachten, was den Dialog und die Verständigung unmöglich macht. Es lohnt sich auch zu überlegen, wie man solche Unterschiede kommunizieren kann, da der interkulturelle Dialog einen guten Ausgangspunkt für eine fruchtbare Begegnung darstellt. Man sollte abwägen, welche anderen Begegnungsarten, die Fragen zu Migration, Flucht und kultureller Vielfalt in den Mittelpunkt stellen, einen Dialog so begünstigen, dass jede und jeder Einzelne als Subjekt wahrgenommen sowie die Gleichberechtigung aller geachtet wird. Zu bedenken ist: Aktivitäten wie „Gerichte probieren“ oder „sich Volkstrachten anziehen“, „Volkstänze präsentieren“ und die „Folklore der anderen Kultur kennenlernen“ unterstreichen die oberflächliche Andersartigkeit und vertiefen nicht die Vielfalt von Erfahrungen. Sie können aber ein guter Ausgangspunkt für Gespräche über Stereotype über andere Kulturen sein. Eine vertiefte Reflexion über Vorurteile kann Verständigung schaffen, jenseits von Erfahrungsunterschieden und Ängsten. Sie kann einen Raum schaffen, in dem unabhängig davon, ob jemand eine Migrationserfahrung hat oder nicht, alle Teilnehmenden der Begegnung sich mehr „zu Hause“ fühlen werden.


3. Wie kann man mit Achtung über verschiedene Gesellschaftsgruppen sprechen?

Man kann anderen Personen Achtung entgegenbringen, indem man ihnen eine Stimme und den Raum gibt, ihre Meinung zu Dingen zu äußern, die sie betreffen (vgl. Punkt 2). Ebenso wichtig ist unsere Wortwahl, wenn wir mit oder über Angehörige von Gruppen sprechen, die von Ausgrenzung bedroht sind. Ein erster Schritt sollte die Frage sein, was sich die Angehörigen der entsprechenden Gruppe wünschen, wie sie angesprochen und wie über sie gesprochen werden soll, denn ihre Stimme sollte hier entscheidend sein. Beispiele:

Man sollte die Formulierung „Person mit Behinderung“ (z. B. Person mit Gehbehinderung, Person mit geistiger Behinderung, Person mit Sehbehinderung) und nicht „Behinderte/-r“ oder „behinderte Person“ nutzen. Wenn man die erstgenannte Bezeichnung nutzt, zeigt man, dass diese Person außer ihrer Behinderung auch viele andere Eigenschaften hat, die ihre Identität ausmachen, dass sie mehr ist, als nur ihre Behinderung. In der deutschen wie der polnischen Alltagssprache funktionieren immer noch Bezeichnungen wie „Krüppel“, „Invalide“, oder „Taubstummer“. Einige dieser Wörter werden weiterhin genutzt, aber sind negativ aufgeladen und vorurteilsbelastet. Achtung: Die Bezeichnung „Taubsein“ (im Gegensatz zu „Taubheit“) bedeutet, dass eine gehörlose Person sich mit der so genannten Gehörlosenkultur identifiziert.

Eine verbreitete Bezeichnung nicht heterosexueller Personen im Deutschen wie im Polnischen ist das Wort „Homosexuelle/-r“. Leider ist auch dieses von Vorurteilen belastet und bezieht sich auf medizinische Kategorien, wohingegen die psychosexuelle Orientierung (hetero-, bi- oder homosexuell) keine Krankheit ist. Man kann von „homosexuellen Personen“ sprechen. Bezeichnungen, die noch stärker eine Augenhöhe und Sensibilität ausdrücken, sind Wörter wie „Schwuler“ und „Lesbe“ (aber nicht „Schwuchtel“, das ist ein sehr verletzendes Wort). Man sollte auch nicht die in Deutschland immer wieder genutzte Bezeichnung von „andersherum“ oder vom „anderen Ufer sein“ oder die in Polen recht beliebte Formulierung von „Andersliebenden“ benutzen, denn diese sind negativ aufgeladen und suggerieren, dass nur heterosexuelle Personen „richtig“ lieben.

Ähnlich wird das Wort „Schwarze/-r“ genutzt, das eine durch Schwarze Menschen selbst postulierte Bezeichnung darstellt. Wir können auch von „dunkelhäutigen“ Personen sprechen, aber nicht von „Farbigen“. In Einklang mit der Annahme von Augenhöhe wird das Wort „Schwarze/-r“ mit großem „S“ („Black“) geschrieben, denn der Großbuchstabe am Anfang soll den Aufbau von Achtung für dieses Wort unterstützen, das viele Jahre lang als Beleidigung galt. Im englischsprachigen und zunehmend auch im deutschsprachigen Raum wird die Abkürzung „P.o.C.“ („People of Color“, „Person of Color“) genutzt, aber die polnische und deutsche Entsprechung („Farbige“, „farbige Personen“) ist beleidigend, deshalb sollte dies nicht in der entsprechenden Übersetzung angewendet werden. Man sollte auch bedenken, dass das Wort „Afrikaner/-in“ sich auf den Kontinent bezieht und nicht auf die Nationalität (ähnlich wie „Asiate/Asiatin“), und dass nicht alle Schwarze aus einem afrikanischen Land stammen. Man kann sich also auf das Herkunftsland beziehen: „Nigerianer“, „Kenianerin“ oder „Einwohner von Mozambique“, ähnlich wie bei Personen, die aus asiatischen Ländern kommen: „Chinese“, „Malaysierin“ oder „Japaner“. Man sollte auch von Sinti und Roma sprechen, statt von Zigeunern oder – wenn auch vermeintlich positiv – von Gypsies.

Materialien auf Deutsch:

Materialien auf Polnisch →

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